Kleider machen Leute

 Teil 1 - 5.1.2012

Schon seit einigen Tagen fiel er mir auf. Er war oft in gleicher Richtung unterwegs wie ich. Er schob sein Rad, da es behangen war mit schweren Taschen und einer dicken Decke. Sein Gang war schwerfällig, ausladend. Ich überholte ihn, holte weit aus, um ihm nicht ins Gehege zu kommen.

Gestern lag er im Buswartehäuschen direkt an der Durchgangsstraße von hier nach da. Als ich zurückradelte, sah ich ihn wieder dort liegen. Ob er noch lebte? Dieser Gedanke  ließ mich nicht los. Als ich am nächsten Tag mit dem Auto an seinem Lagerplatz vorbeifuhr, sah ich zu meiner Beruhigung, dass er dort saß, dick eingepackt in seine karierte Decke und las. Das hätte ich nicht vermutet. -Er las.-

Ich nahm mir vor, anzuhalten auf der Rücktour, ihn zu fragen, ob er Hilfe brauche. Vielleicht war er krank, konnte nicht weiterschieben mit seinem Gefährt.

Als ich dann wieder Richtung Heimat fuhr, stellte ich mir Fragen über Fragen  und  ich dachte mir "Er wird voll des süßen Weines sein, mich vielleicht nicht verstehen können. Wen sollte ich unterrichten? Die Polizei? Den Pastor? Eine Freundin, die Menschen in Notsituationen hilft und weiß, welche Stellen informiert werden können? Ich überlegte, ob ich ihn in mein Auto bitten würde, ihn zum Krankenhaus bringen würde, sollte er gesundheitliche Beschwerden haben. Ob er stinkt?  Je näher ich dem Buswartehäuschen kam, desto lauter wurden die Fragen. - Fahr ich vorbei?" - Ich fuhr nicht vorbei, parkte meinen Wagen ein Stückchen weiter und ging zu ihm.

Der Wind peitschte mit 9 oder 10 aus Nordwest, der Regen knallte auf meine Haut.

Er saß noch dort, schön eingemummelt, las eine zusammengeknickte Zeitung.
"Hallo, guten Tag"
"Hallo" antwortete er.
"Brauchen sie Hilfe?"
"Nein. ich brauche keine Hilfe."
"Wo schlafen sie denn heute Nacht?"
"Hier!"
"Meine Güte, bei diesem Sturmgebraus. Ist ihnen nicht zu kalt?"
"Nö. Alles ok. Die Bude steht windgeschützt."
Er zeigte auf einen kleinen Gaskocher, der zu seinem Reisegeschirr gehörte.
Er sprach klar und deutlich, nichts mit süßem Wein. Um sich herum waren Brauseflaschen geschart. Keine Flasche mit Alkohol.
"Ich kann mir gar nicht vorstellen, hier übernachten zu müssen" sagte ich
"Tja, dass glaube ich. Normale Menschen können sich das nicht vorstellen."
"Wo sind sie denn immer unterwegs? Hier in der Gegend?"
"Ja, hier im Umkreis. Ich warte nur noch, bis die andere Brille fertig ist, dann geht die Reise weiter."
Ich sah, dass ein Brillenglas einen Riss hatte.
"Sagen sie mal, ist die Brücke über die Este noch gesperrt? Ich will da lang. Sonst muss ich einen großen Umweg machen".
Ich munterte ihn auf, es über die Brücke zu versuchen,
"Für Autos ist sie gesperrt, aber Radfahrer und Fußgänger können sie passieren."
"Na, das wäre ja klasse. Vielen Dank, dass sie nachgefragt haben" sagte er.

Ich verabschiedete mich, wünschte ihm alles Gute und verschwand in mein angewärmtes Auto.

Kleider machen Leute. Ich hatte Gestammel erwartet, eine Alkoholfahne, einen Menschen, der seine Ruhe haben will, nicht mehr gewohnt ist, ein Gespräch zu führen, aber dem war ganz und gar nicht so.

Und nun sitze ich in meiner gemütlichen, warmen Stube, denke an diesen Mann, der in seiner Welt lebt, einer Parallelwelt, mit dem das Gros der Bevölkerung nichts zu tun haben möchte. Ich schäme mich meiner Gedanken. Ich hätte gern mehr über ihn erfahren.

Morgen soll das Wetter besser werden. Vielleicht fahre ich mit dem Rad noch einmal bei ihm vorbei.-
Wenn er denn noch da ist.-

Teil 2 - 6.1. 2012

Er war nicht mehr da. Das konnte ich schon von Weitem erkennen. Sein Rad stand nicht mehr vor dem Wartehäuschen. Ich hatte mir überlegt, ihm diese Socken vorbeizubringen. Kann man ja gut gebrauchen bei diesen Temperaturen.

Als ich dann meinen Weg ins Städele fortsetzte, ging ich zum Schlachter, stand  an den vielfältigen Auslagen. Ich stand in der Schlange, jedeR gut gekleidet von oben bis unten. Die Würstchen schlank und rosig neben dem rosa Roastbeef. Alles blickte auf die Leckereien, bis sich eine Unruhe breitmachte unter den Wartenden.Ich blickte nach links durchs Fenster auf die Straße: Da stand er der Mensch, der unter freiem Himmel lebt, sah mich und wir winkten uns mit einem Lächeln zu. Ich spürte skeptische Blicke.

Als ich das Geschäft verließ, sah ich sein Fahrrad dort stehen, vollgepackt mit Kledasche. Hinten hatte er ein gelbes Pappschild befestigt:
Kopfrechnen schwach?
Gerhard -SPD- hat 500.000 von VW bekommen
und ich muss mir 500.00 pumpen...

Ich blieb noch eine Weile dort stehen, hatte ihn aber nicht entdeckt und fuhr nach Hause. Ich hätte die Socken ja auch unter seinen Gepäckträger klemmen können - ist mir nur zu spät eingefallen, aber ich werde sie jetzt immer mitnehmen, wer weiß...

Kommentare

Wald-und Kräuterfrau hat gesagt…
Liebe Heidi,
achja, seufz...kann es Dir nachfühlen. Unglaublich wie der Mann dies alles so wegsteckt. Bei so einem Wetter bin ich immer wieder froh ein Dach über den Kopf zu haben u. mich am Ofen wärmen zu können.
Herzlich BB
♥❀♥
Brigitte hat gesagt…
Wir täuschen uns manchmal. Es sind nicht alle Alkoholiker, manches Mal nur welche, die irgendwie einen anderen Weg gehen wollen oder etwa Arbeit und Wohnung verloren haben. Ich habe als Pfarrsekretärin viele solche Leute kennengelernt. Vorurteile hatte ich bald überhaupt keine mehr, es waren etliche liebenswerte Menschen darunter, einfach arm.

Ich finde, dass du dich ganz vorbildlich verhalten hast, du hast nachgefragt. Das würden nur sehr wenige tun!

Lieben Gruß, Brigitte
Andrea hat gesagt…
ja Vorurteile hat man schnell, aber ich denke er hat sich gefreut das ihn mal jemand als Mensch behandelt hat.
Gruß
Andrea
Mopsfidel hat gesagt…
Von Rainer Maria Rilke:

Gemeinsam mit einer jungen Französin kam er um die Mittagszeit an einem Platz vorbei, an dem eine Bettlerin sass, die um Geld anhielt. Ohne zu irgendeinem Geber je aufzusehen, ohne ein anderes Zeichen des Bittens oder Dankens zu äussern als nur immer die Hand auszustrecken, sass die Frau stets am gleichen Ort. Rilke gab nie etwas, seine Begleiterin gab häufig ein Geldstück. Eines Tages fragte die Französin verwundert nach dem Grund, warum er nichts gebe, und Rilke gab ihr zur Antwort: "Wir müssen ihrem Herzen schenken, nicht ihrer Hand." Wenige Tage später brachte Rilke eine eben aufgeblühte weisse Rose mit, legte sie in die offene, abgezehrte Hand der Bettlerin und wollte weitergehen.

Da geschah das Unerwartete: Die Bettlerin blickte auf, sah den Geber, erhob sich mühsam von der Erde, tastete nach der Hand des fremden Mannes, küsste sie und ging mit der Rose davon.

Eine Woche lang war die Alte verschwunden, der Platz, an dem sie vorher gebettelt hatte, blieb leer. Vergeblich suchte die Begleiterin Rilkes eine Antwort darauf, wer wohl jetzt der Alten ein Almosen gebe.

Nach acht Tagen sass plötzlich die Bettlerin wieder wie früher am gewohnten Platz. Sie war stumm wie damals, wiederum nur ihre Bedürftigkeit zeigend durch die ausgestreckte Hand. "Aber wovon hat sie denn all die Tage, da sie nichts erhielt, nur gelebt?", frage die Französin. Rilke antwortete: "Von der Rose . . ."
LG Petra
alcimia hat gesagt…
hatte er nur ein auge?? ; )

frohes neues jahr, liebe heidi!
natascha
Jutta hat gesagt…
Liebe Heidi,

das ist eine sehr berührende Geschichte und Du hast Dich ganz toll verhalten.
Ich weiß nicht, ob ich das gemacht hätte.

Liebe Grüße
Jutta
Elisabeth Firsching hat gesagt…
Liebe Heidi,
Danke für diese schöne und so ehrliche Geschichte! Ich habe schon so oft gegrübelt, warum Menschen so schnell Angst bekommen vor Allem, was ein wenig anders aussieht als sie selbst und merke selbst auch, wie stark diese Beeinflussung ist, der wir von klein auf ausgesetzt sind. Kinder, die noch nicht so stark von Erwachsenen beeinflusst sind, reagieren da oft noch anders, viel offener (bis sie in Gruppen dem herrschenden Druck weichen). Ob andersfarbig, behindert oder sich anders verhaltend, ich finde gerade diese Menschen geben uns die Möglichkeit, etwas Neues zu erfahren über das Leben. Es sit so schade, dass wir so leicht mit Abwehr reagieren. Dass das sehr oft gar nicht nötig ist, hast du hier sehr schön beschrieben und mich richitg neugierig gemacht auf diesen Mann und seine Geschichte. Ich denke, dass er auch ohne die Socken von dir bekommen zu haben, mit einem Geschenk weitergezogen ist, nämlich dass ein Mensch ihm ihr Herz geschenkt hat!
Die Idee, die Socken immer dabei zu haben finde ich klasse und ich werde mir jetzt auch immer "Socken" (ein Lächeln, ein aufmunterndes Wort, ein Nachfragen) in die Tasche packen, wer weiß, vielleicht ergibt sich schon morgen eine Gelegenheit ein bisschen Liebe zu geben.
Danke für diesen Post und alles Liebe!
Elisabeth
Friesenfan hat gesagt…
Hat mich an ein Erlebnis aus meiner Jugend erinnert Deine Geschichte. Habe einen Obdachlosen getroffen, der den Tod seiner Frau nicht verkraftet hatte und so auf der Straße landete. Er war Architekt ... Immer wenn ich irgendwo Obdachlose sehe muss ich an ihn denken.
Liebe Grüße und ein gutes neues Jahr
Heidi hat gesagt…
Danke für eure Kommentare.
Petra - danke für die Geschichte. Es ist eine sehr berührende Geschichte, an der viel Wahres ist.

Mir macht diese Begegnung zu schaffen. Wir reden in unserer Familie immer wieder davon, wie sehr die Schere in unserem Lande doch auseinandergeht. Der Konsumterror wird für mich immer unerträglicher. Da tauchen viele Fragen auf wie z.B. "was brauche ich zum Leben" .
Man sollte dankbar sein, wenn man zu essen, zu trinken hat und ein Dach über dem Kopf.
LG Heidi
Renate Waas hat gesagt…
Das ist eine sehr berührende Geschichte und liebevoll geschrieben! Freu mich grad sehr darüber.
Viele Grüße von Renate
"Man sollte dankbar sein, wenn man zu essen, zu trinken hat und ein Dach über dem Kopf." Wie recht Du hast! Ich denk das oft und dazu noch, wie gut Selbständigkeit ist und dass man einigermaßen gesund ist. - Wie dieser Mann die kalte Zeit übersteht - und andere in Süd!-Europa Temperaturen von weniger als 30 Grad Minus!!! ist mir ein absolutes Rätsel. Muss oft an diese Menschen denken, die eh schon oft nix zu beißen haben.

Lieben Gruß von Anemone